Es gibt immer einen Weg
Das habe ich mir lange gewünscht, und jetzt ist es real: Ich bin in Sibirien gewesen. Leider hat dort jemand behauptet, dass auf innerrussischen Flügen bei der Aeroflot manchmal keine Alkoholkontrollen der Piloten gemacht werden; und ich habe gesehen, wie viel die Leute hier wegbechern. Das Flugzeug, in dem ich sitze, ist alt. Von der Decke hängt die Verkleidung herab, die Lehnen der Sitze lassen sich nicht mehr hochstellen und auf der Toilette fehlt die Klobrille. Dazu klappert es. Und ich bemerke, dass ich Angst habe. Angst, dass das Flugzeug abstürzt und ich sterbe. Gleichzeitig beobachte ich meine Gefühle und bemerke erstaunt, dass ich Todesangst habe. Und dass das bedeutet, dass das Leben mir etwas bedeutet. Dass es mir sogar richtig viel bedeutet. Dass etwas passiert ist, dass mir mein Leben lebenswert macht. Dass in mir etwas sagt: Ja, ich will leben, mein Leben leben. Das ist neu. Das ist verdammt neu.
Das war 2002, nachdem ich eineinhalb Jahre lang Einzelsession bei Jonny hatte.
Bevor ich bei Jonny mit Einzelsessions angefangen habe, hatte ich schon zwei Jahre lang Therapie in einer Gruppe gemacht. Nach dem ersten Jahr dort, als ich mal wieder keinen Sinn in allem sah, sagte mir die Therapeutin auf den Kopf zu, dass ich mich und andere durch mein Verhalten gefährdete. Wenn ich ohne zu gucken mit dem Fahrrad bei Rot über die Ampel gefahren bin, zum Beispiel. Erst durch sie realisierte ich, dass ich suizidal unterwegs war, und das schon die ganzen letzten Jahre. Ich habe ein weiteres Jahr gebraucht, um zur Einschätzung zu kommen: "Also, wenn die das von mir will, dann lebe ich halt." Aber dann ging es dort nicht mehr weiter. Mit meiner Intelligenz gelang es mir immer häufiger, durch Sprache abzuhauen und meine Widerstände zu inszenieren, so dass ich darin gefangen blieb. Aber wann immer es hieß "Schnauf’ durch" oder "Hol’ dir eine Kontaktperson", an die ich mich lehnte, da spürte ich, wie etwas geschah, das mir weiterhalf. Atem und Körper, das wollte ich. Und dann sah ich eine Anzeige: "Körper- und Atemarbeit nach Wilhelm Reich, Jonny Stadler, Handy-Nummer" - und rief an. Das war der Anfang einer langen Reise, die mich immer weiter zu mir führt und auch nach über acht Jahren noch lange nicht zu Ende ist.
Die erste Stunde erinnere ich noch gut. Ich kam hin und wusste nicht, was mich erwartet. Stellte mir vor, dass er erst einmal Fragen stellen würde und eine Art Erstgespräch führen würde. Aber er wollte gar nicht so viel wissen. Stattdessen sollte ich mich auf die Matte legen und anfangen tief zu atmen. "Ok", dachte ich, "und was soll das bringen?" Nach kurzer Zeit steckte ich innerlich fest. Ich kannte die Gefühle nicht, die in mir waren, wusste noch nicht einmal, dass es Gefühle waren. Ich merkte nur, dass ich nicht wusste, wie mir geschah. Dass ich froh war, dass Jonny da war und mich gleichzeitig vor ihm verstecken wollte. Dass etwas unerträglich war. Jonnys Gesichtsausdruck sah irgendwie mitgenommen oder erschreckt aus, ich konnte es nicht deuten. Mein Körper hatte sich verkrampft, und ich konnte beim besten Willen nicht mehr tief atmen. Mist, ich kann's nicht, ich mach's falsch. Ich bin falsch. Bevor ich in meine altbekannte innere Schwärze fiel, forderte Jonny mich auf, einen Ton zu machen. Einen Ton? Häh? Na gut, mir fällt selber ja nichts mehr ein. Es wurde kein Ton, es wurde ein Schrei, kein Schrei, sondern ein Gebrüll, laut und lange und gequält und schmerzhaft. Mein Zeitempfinden stoppte, mein Gefühl für die Situation stoppte, mein Gefühl für meine Gefühle stoppte. Und danach rief Jonny: "Was haben die mit dir gemacht? Die haben dir ja dein Herz gebrochen!" Mein Herz. Was ist das? Habe ich sowas? Ich fühlte mich verstanden. Gesehen, auf einer Ebene, die vorher noch niemand auch nur ansatzweise berührt hatte. Ja, stimmt, ich fühle mich als ein gebrochener Mensch. Und darf es gar nicht sein, weil doch im Außen alles so wunderbar ist: Promotionsstelle an der Uni, vielseitige Interessen, gesund, immer voller Ideen.
Aber das Andere in mir. Der Horror, die Angst. Die kannte ich nicht, von denen wusste ich nicht viel. Ich war nicht in der Lage zu fühlen. Meistens spürte ich noch nicht einmal Schmerz, wenn ich mich aus Versehen an der Hand anschlug. Dass ich mich selbst schlug, wusste fast niemand, und ich ignorierte es vor mir selbst. Jonny sagte ich es nicht, ich traute mich nicht. Irgendwie war da das Gefühl, dass das schlimm ist, sehr schlimm, und dass Jonny dann sagen würde, dass er das nicht mehr handlen will und mich wegschickt. Dass er mich fortschickt, und ich wieder verlassen werde. So wie ich als Baby von meinen Eltern verlassen wurde und auch als sie zurück waren, nie einen echten Kontakt gefunden habe. Ich war sieben, als ich mich das erste Mal bewusst und absichtlich schlug. Meine ganze Umgebung war damals sehr froh, weil ich von an da keine anderen Kinder mehr schlug und keine Sachen mehr kaputt machte. Das hatte sich ausgewachsen, dachte meine Mutter. Und niemand wusste davon, dass ich mich selbst schlug, niemand sah es, niemand bemerkte etwas. In der Grundschule nicht, im Gymnasium nicht. Auch als ich als Studentin meinen Kommilitonen davon erzählte, dachten die sich nichts dabei. Für mich war es normal, es war meine Art, mich zu entspannen. Einmal Kopf gegen die Wand, und schon funktionierte ich wieder. Aber während meiner Vorbereitungen für’s Diplom wurde es immer schlimmer. So arg, dass ich mit dem Hammer zuschlug und mein Leib voller blauer Flecken war. Warum ich das tat, wusste ich nicht. Also ignorierte ich es und machte weiter. Bis ich eines morgens nicht mehr konnte und plötzlich dachte: "Es ist nicht in Ordnung, wenn jemand anderes mich schlägt, es ist nicht in Ordnung, wenn ich jemanden anderes schlage, ich glaube, es könnte sein, dass es nicht in Ordnung ist, wenn ich mich schlage." Und da beschloss ich, mir Hilfe zu suchen. So in Richtung Selbsterfahrung oder Persönlichkeitswachstum. "Therapie brauche ich nicht", dachte ich damals, "ich bin ja nicht krank, es ist ja alles in Ordnung". Im Nachhinein finde ich das seltsam. In dieser Zeit wusste ich auch, dass ich nicht mehr leben wollte, fand aber auch das normal. Schließlich denkt jeder mal an den Tod. Aber ich war ehrgeizig und wollte das Diplom machen. Also erhielt ich mich am Leben, um dieses Ziel zu erreichen. Mein Lebensfaden war dünn.
In den ersten Jahren bei Jonny lernte ich zu fühlen. Wahrzunehmen, was denn eigentlich in mir los ist. Und das lief über den Körper. Jonny fragte, was ich wahrnehme. Oft nahm ich wahr, dass mein Körper kalt war. Oft sogar so kalt, dass ich am ganzen Leib Gänsehaut hatte. Und dann lernte ich, dass das Angst ist. Dass ich Angst habe, wenn sich in mir alles zusammen zieht und es eng wird und kalt wird und unbeweglich wird. Später, wenn er fragte und ich die Gänsehaut spürte, konnte ich schon selbst kombinieren und kam zu dem Schluss, dass das, was ich spüre, Angst ist. Und Jahre später spürte ich unmittelbar, dass es Angst ist. Inzwischen kann ich verschiedene Sorten von Angst spüren und unterscheiden und spüre, wie sie sich überlagern und mit anderen Gefühlen mischen und kann benennen, welches Gefühl welchen Anteil zu meinem Gesamtzustand beiträgt.
Am Anfang der Körperarbeit wusste ich nicht, was Wut ist. Einmal machten wir eine Mattenarbeit, in der ich schrie und mit meinen Füßen gegen die Matte trat und mit meinen Fäusten auf die Matte einschlug. Jonny hielt mich immer wieder fest, um mir Widerstand zu geben. Ich tobte so arg, dass er ins Schwitzen geriet. Und dann, als es vorbei war, bemerkte er spontan: "Mensch, hast du ’ne Wut!" Ich war ganz verblüfft und fragte: "War das Wut?" Zuerst lachte er. Aber dann sah er, dass es eine echte Frage war. Ich wusste wirklich nicht, was da gerade passiert war, welches Gefühl zu diesem Schreien und Toben gehört. Und da wurde er sehr ernst und still und antwortete: "Ja, das war Wut. Und was für eine." Erst ab da wusste ich, dass ich Wut habe und dass ich immer wieder furchtbar wütend bin.
Und dass ich auch als Kind wütend war. Aber das hat damals niemand so genannt. Wenn ich so war, dann war es immer nur falsch und nicht gut. Wut als Begriff gab es auch, aber ich wusste nie, was es eigentlich ist. Nur dass es ganz böse ist. Gott will das nicht, das ist satanisch. Ich muss alle Menschen mögen und meine Eltern immer achten und ihnen gehorsam sein.
Die Wut zerriss mich innerlich. Wieder und wieder gab es Sessions, in denen ich tobte. Jonny blieb immer ruhig, präsent und sicher. Ich hatte das Gefühl, dass ich explodiere, dass ich von innen heraus überwältigt werde, es nicht aushalten kann. Und immer wieder hielt Jonny mich aus. Bot mir ein energetisches Gefäß, das meine Wut begrenzte. Ich entwickelte das Vertrauen, dass Jonny da ist und da bleibt. Dass ich so sein darf, wie ich bin, und dass ich so intensiv sein darf, wie ich bin, und dass ich so hilflos sein darf, wie ich bin. Bis schließlich für mich spürbar wurde, wie es sich anfühlt und welche Dynamik in mir abläuft. Bis ich schließlich an den ersten Anzeichen erkennen konnte, dass sich ein Wutausbruch ankündigt und wie heftig er werden könnte und ob ich in der Lage bin, ihm standzuhalten oder nicht. Allein oder ohne den körperlichen Ausdruck hätte ich das niemals erleben können.
Und die vielen Male, in denen ich kraftlos war. In denen ich bedürftig war und es mich nicht zu sein getraute. Wie ich mich schämte, dass ich gehalten sein wollte. Die eine Session, in der ich bewegungslos und wortlos mit geschlossenen Augen ausgestreckt auf der Matte lag und mir wünschte, dass jemand über mein Haar streicht. Und was machte Jonny? Er streckte seinen Arm aus und fing an, mir über meine Haare zu streichen. Ich wusste nicht, wie mir geschah. Es fühlte sich so gut an. So warm und weich, ich war so sehr gemeint, das war nur für mich. Ganz genau so, wie ich es mir gewünscht hatte. Aber das ist doch verboten. Ich darf mich doch nicht berühren lassen, schon gar nicht von einem Mann. Ich darf es mir auch nicht wünschen, jeder Gedanke ist Realität, und so hat auch der Sündenfall angefangen. Ich hielt es schier nicht aus, Jonnys Geste anzunehmen. Und doch: Mein gesamter Organismus jubelte und sagte: "Ja! Mehr! Weiter!" Ich konnte nichts sagen, zu sehr stritten die Gegensätze in mir und blockierten mich. Jonny schien meine widerstreitenden Gefühle irgendwie zu erkennen und beruhigte mich: "Du musst gar nichts tun." Wie macht er das bloß? Wie kriegt der immer mit, was gerade los ist, und wieso irrt er sich nie? Oder höchstens ganz selten? Es war mir ein Rätsel und mutete schier magisch an.
Im Lauf der Monate und Jahre lernte ich zu entspannen und anzunehmen. Ich lernte zu erkennen, was ich brauche und was ich mir wünsche. Ich lernte, es mir zu holen. Zuerst nonverbal, indem ich meinen Kopf in Jonnys Richtung bewegte. Später auch mit Worten: "Bitte halt’ mich." Das war und ist eine meiner schwersten Übungen. Zu erkennen, dass ich Hilfe brauche, dass ich Halt brauche, dass ich Zuwendung und Zärtlichkeit brauche. Zu lernen, dass es das gibt. Dass ich nicht dazu verdammt bin, in meiner Sehnsucht auf ewig gefangen zu sein, sondern dass es Momente geben kann, in denen Verbundenheit und Zartheit gelebt werden können. Dass das sein darf. Dass ich das brauchen darf und dass es etwas Normal-Menschliches ist. Dass es dazu gehört zum Menschsein. Das ist etwas, dass ich nach wie vor nicht glauben kann. Obwohl ich gelernt habe, mir Nähe zu holen und es auch immer häufiger klappt.
Einmal wollte ich absagen, weil ich so müde war. Ich wollte mich nur hinlegen und schlafen, fühlte mich erkältet und leicht fiebrig. Aber dann dachte ich mir: "Jonny hat gesagt, dass ich immer kommen kann, egal wie es mir geht." Also ging ich hin, mit der Absicht, mich zum Ausruhen hinzulegen. Jonny war einverstanden, deckte mich zu und hielt meinen Kopf. Die ganze Stunde verging auf diese Weise. Hinterher war ich immer noch müde, aber ich fühlte mich nicht mehr krank. Und ich war auf eine beglückende Weise verwirrt: Er war bei mir und hat mich gehalten, obwohl es mir nicht gut ging! Ich durfte mit einem Menschen zusammen sein, obwohl ich keine Kraft mehr hatte. Und ich habe Ruhe gefunden, was sonst ausschließlich dann ging, wenn ich allein bin. Weil ich so viel Angst vor anderen Menschen habe, dass ich keine Ruhe finde, wenn jemand da ist. Und jetzt ging es doch. Kann das sein? Ist es möglich, dass andere Menschen von mir nicht permanent Höchstleistungen einfordern, sondern ich auch schwach sein darf? Ich konnte es nicht glauben, und doch hatte ich es erlebt.
Ende 2004 fing dann das Zittern an. Mein Körper fing einfach an zu zittern. Anfangs unterdrückte ich es, aber Jonny ermunterte mich immer wieder: "Lass es zu. Lass es geschehen, spür hin." Und ich merkte, wie das funktionierte und wie es mich entlastete, den inneren Druck von mir nahm. Zuerst nur während der Sessions, wenn Jonny bei mir war und ich wusste, dass er mich halten und aushalten würde, auch wenn es so schlimm würde, dass ich selbst es nicht mehr aushalten könnte. Mit jeweils einigen Wochen Verzögerung konnte ich dann auch allein zu Hause damit umgehen. Aber es hörte nicht auf, über Wochen wurde es immer stärker. Ich musste aufhören zu tanzen, weil jede freie Bewegung das Zittern und die Angst auslöste. Und dann konnte ich nicht mehr richtig schlafen. Ausgerechnet, während ich meine Doktorarbeit fertig schrieb. Bilder schossen abends und nachts und morgens durch mich durch. Ich konnte sie nicht greifen, mich nicht an sie erinnern, aber ich erkannte den Charakter. Es war derselbe, der mich fünf Jahre früher willenlos dazu getrieben hatte, mit dem Hammer auf mich zu schlagen. Wieder spürte ich den inneren Druck, mich selbst zu verletzen. Aber meistens konnte ich etwas entgegen setzen. Immer wieder holte ich mir Jonnys Stimme her: "Es ist in Ordnung. Es darf sein. Nimm wahr, wie sich dein Körper anfühlt, gib nach, wie sich dein Körper ausdrücken will. Wie fühlt es sich an? Kannst Du dich spüren?" Und noch wichtiger, ich holte mir das Gefühl her, von Jonny gehalten zu werden. Egal, was gerade in mir wütete, egal, wie überfordert ich mich fühlte, er hielt mich fest. Meinen Kopf. Oder mich als ganze Person wie ein zur Kugel zusammengerolltes Erwachsenen-Baby. Es linderte die Einsamkeit, die große allumfassende Schwärze in mir. Manchmal ging es nicht. Dann schlug ich mich wieder.
Und dann wurden die Bilder konkret und ich konnte ihnen zuschauen, wie einen Film ablaufen lassen. Es waren Szenen, in denen gewalttätige Männer eine Frau oder ein Kind missbrauchten und misshandelten. Ich identifizierte mich immer mit dem Opfer. Es zu schildern, fiel mir unglaublich schwer, während ich sprach fing der ganze Horror wieder an. Und Jonny sagte: "Nix griechischer Lustknabe. Jetzt und hier, in Deiner Biographie." Ich rief meine Schwestern an und fragte sie. Und sie bestätigten es. Unser Vater hat sie über Jahre sexuell missbraucht. Sie haben jahrzehntelang nichts gesagt. Inwieweit ich involviert war, ist unklar. Uff. Als ob ich nicht schon genug zu verarbeiten hätte. Jetzt auch noch das. Um mich der Dimension zu vergewissern, holte ich mir juristischen Rat ein. Es wurde klar: Alles ist verjährt, von dieser Seite ist nichts mehr möglich. Und ich konfrontierte meine Eltern. Das Gesicht meines Vaters zeigte mir: Es stimmt. In den Sessions tobte ich entweder und wütete und hasste oder ich fiel in mich zusammen, kollabierte und wollte nur noch gehalten werden wie ein kleines Baby. Währenddessen schrieb ich meine Doktorarbeit fertig. Ich spürte, dass ich es nicht mehr lange aushalten würde. Es war mir alles zu viel und zu anstrengend. Ich wollte nur noch weg.
Und dann ging ich weg, so weit weg, wie es nur denkbar ist, nämlich nach China. Dort arbeitete ich einige Monate lang als Gastwissenschaftlerin, ruhte mich emotional von all den Stürmen ein wenig aus und begann, intensiv Tagebuch zu schreiben. Meine Arbeit lag währenddessen bei meinem Professor auf dem Schreibtisch. Als ich zurück kam, ging ich davon aus, dass er sie in der Zwischenzeit korrigiert haben würde, ich meine Arbeit abschließen würde und anschließend eine Stelle in den USA als Wissenschaftlerin annehmen würde. Ich wollte die akademische Laufbahn einschlagen. Aber mein Chef hatte nichts gelesen. Er wollte noch eine zusätzliche Publikation. Das Manuskript dafür hatte ich in China geschrieben, aber die Korrektur zog sich und zog sich. Die emotionale Ruhe in China war nur ein vorübergehendes Ausruhen gewesen. Kaum war ich zurück, ging alles wieder los, das Zittern, die Angst, die Wut. Immer wieder schlug ich mich. Der einzige Ruhepol waren die Sessions bei Jonny. Da wusste ich, dass ich aufgehoben war. Dass er mich begleiten würde und mir weiter helfen würde, ganz egal, was da war. Und immer, wenn ich dachte, dass die Intensität der Gefühle nicht mehr zu überbieten war, wurde ich eines besseren belehrt. Da war noch mehr Angst in mir, noch mehr mörderische Wut, noch mehr Zittern, noch größere Bedürftigkeit. Ich dachte, dass es gar nicht mehr aufhören würde. Bei der Arbeit hatte ich nicht viel zu tun, ich musste nur noch die Korrekturen einarbeiten und dann auf die nächste Korrektur warten. Aber das zermürbte mich, schließlich wollte ich fertig werden und die nächsten Schritte in meiner Karriere machen. Aber ich war äußerlich ausgebremst.
Schließlich kulminierte meine Angst in einer Session. Schon vorher hatte ich große Angst gespürt. So viel Angst, dass ich nicht mehr sprechen konnte, dass ich Jonny nicht mehr begrüßen konnte und mich gleich auf die Matte begab. Ich wollte nicht mehr und spürte, wie ich einfror. Wie mein Körper kälter und kälter wurde und sich meine ganze Haut mit Gänsehaut überzog. Jonny schaute mich die ganze Zeit an. Zuerst hielt ich den Augenkontakt, dann war mir auch das zu viel, ich schloss meine Augen und gab mich dem Hinabtrudeln ins Nichts hin. Ich hatte keine Kraft mehr, dem etwas entgegen zu setzen. In mir schrie etwas nach Hilfe, aber ich konnte nichts sagen oder tun. Und so geschah nichts. Bis ich mich aufgab. Bis ich dachte: "Wenn noch nicht einmal Jonny bemerkt, wie es um mich steht, dann macht es keinen Sinn, weiter zu leben." Und genau in diesem Moment sagte Jonny: "Mach deine Augen auf. Sprich mit mir." Zuerst reagierte ich nicht. Da wurde er schärfer. Ich erlebte es als Befehl, dem ich mich nicht widersetzen konnte. Und es war so unendlich schwer, meine Augenlider zu heben. Sprechen konnte ich zunächst nicht. Innerlich hörte ich schon das Tatütata eines Notarztes. Das hier, das sprengt jetzt bestimmt endgültig den Rahmen der Körperarbeit. Das hier, das ist das, wovor ich uneingestanden mein Leben lang Angst hatte: dass ich die Kontrolle über mich so sehr verliere, dass andere Menschen mit mir machen können und müssen, was sie wollen. Gleich wird eine Spritze gesetzt werden und ich abtransportiert werden. Aber nichts dergleichen geschah. Jonny klopfte mir gegen meine Wangen, und ich versuchte zu sprechen. Meine Lippen waren wie taub und meine Zunge gehorchte mir nicht. Aber dann taute ich wieder auf, bis ich wieder präsent und wach war. Das machte mich froh auf eine Weise, die ich mir vorher nicht hätte erträumen können. Ich habe meinen Horrortrip durchlebt und überlebt und lebe noch, und ich war dabei nicht allein. Jonny war bei mir. Und auch wenn ich geglaubt hatte, dass er nicht mehr da wäre, war er trotzdem da. Und hat zum richtigen Zeitpunkt eingegriffen. Einmal wieder wunderte ich mich: "Wie macht der das bloß?" Ich war so erschöpft, dass ich nur noch liegen bleiben wollte. Das durfte ich auch, ausnahmsweise. Und von Stund’ an war meine Angst, dass ich so einbrechen könnte, dass ich nicht mehr für mich sprechen kann, weg.
Ungefähr um diese Zeit boten Jonny und Angela eine neue Gruppe an. Ich wollte gerne mitmachen, aber die Gruppe war für ein Jahr vorgesehen und ich war mir sicher, dass ich meine Dissertation bald abschließen würde und dann wegziehen würde. Aber Jonny ermunterte mich, trotzdem damit anzufangen. Das tat ich denn auch. Und war extrem erstaunt, dass die anderen Teilnehmer/innen zwar auch mal schrieen, aber nicht so laut und lange wie ich. Dass sie mich mit großen Augen ansahen, wenn ich zitterte. Dass ich mit meiner Intensität für manche zu viel war. Ich hatte gedacht, das sei so und das sei bei allen so, die Skan machen. Ich war mir sicher gewesen, dass das eben zu dieser Art von emotionaler Arbeit dazugehört und dass das alle Menschen erleben. Aber so arg wie bei mir war es bei den anderen nicht. Aber sie hielten mich aus. Wenn mir etwas zu viel wurde, dann konnte ich zu Jonny gehen und mich halten lassen, bis ich wieder beruhigt war. Ich war umgekehrt konsterniert, wenn andere weinten. Wie geht denn das, weinen? Schreien, ja. Aber wie machen die das, dass Tränen fließen? Das hätte ich auch gern. Ich möchte auch weinen können.
Zwei Monate später verteidigte ich endlich meine Dissertation. Und feierte anschließend ein riesengroßes Fest. Es war nicht nur der Abschluss meine Promotion, den ich feierte. Es war der Abschluss meines bisherigen Lebens. Ich fühlte, dass etwas zu Ende ging, das mein ganzes bisheriges Leben ausgemacht hatte. Und ich lud alle Menschen ein, die mir in meinem Leben begegnet waren, mit denen ich etwas zu tun gehabt hatte und die ich ausfindig machen konnte. Über hundert kamen, Leute von der Skan-Gruppe, vom Tanzen, vom Studium, von der Uni, von der Schule, Verwandte, Freunde und Bekannte. Ich war glücklich.
Eine Woche später schrieb mich meine Hausärztin wegen Erschöpfung krank. Und zwei Monate später hatte ich an der Uni einen Burnout. Ich konnte plötzlich nicht mehr lesen, mich nicht mehr konzentrieren und die üblichen Abläufe nicht mehr bewältigen. In der Skangruppe dissoziierte ich fast vor aller Augen. Meine Hausärztin meinte, ich bräuchte Pause. Aber ich brauchte ein psychologisches Gutachten, um länger krank geschrieben werden zu können. Also ging ich zur psychologischen Beratungsstelle der Uni. Die Psychologin dort fragte: "Haben Sie schon mal dran gedacht, in eine Klinik zu gehen?" Ja, hatte ich, in den davor liegenden Monaten, in denen ich spürte, wie meine Lebensvision von der Unikarriere bröckelte. Wenn ich unendlich viel Geld hätte und keinerlei Verpflichtungen, was würde ich machen? Meine Antwort damals war: Therapie in Vollzeit. Also, wenn meine Themen schlimm genug sind, dass ich in eine Klinik gehen kann, warum nicht? Drei Wochen später war ich dort.
In den zehn Wochen in der Klinik lernte ich viel. Zum Beispiel, dass das, was ich innerlich erlebe, typische Symptome einer posttraumatischen Belastungsstörung sind. Und dass ich auf einem enorm guten Weg bin und immense Schritte gegangen bin auf dem Weg, meine abgespaltenen Gefühle wieder zu mir zu holen und ganzer zu werden. Da war ich sehr viel stabiler als die meisten anderen Patientinnen der Traumagruppe. In der Klinik trugen sie Sorge dafür, dass wir Patientinnen nicht von unseren Gefühlen überwältigt und überschwemmt würden. Weil die ursprüngliche Traumatisierung ja dadurch entsteht, dass unbewältigbare angstauslösende Erfahrungen stattfinden und die Betroffenen mit Einfrieren und Tot-Stellen reagieren. Wenn jetzt die alten Gefühle hochkommen und nicht bewältigbar sind, besteht die Gefahr einer Retraumatisierung. "Ja", dachte ich, "aber nur, wenn man damit allein bleibt." Wie sehr sehnte ich mich immer wieder nach Jonny, der mich gehalten hat, auch wenn ich überschwemmt wurde von meinen Gefühlen. Dadurch bekam ich Sicherheit und habe gelernt, die Intensität meiner Gefühle mehr und mehr halten und steuern zu können. Es ist ein langer Weg, ein verdammt langer Weg. Und ich bin auch jetzt, wo ich diesen Text schreibe, nach 11 Jahren Therapie noch nicht da, es so zu können, dass ich nicht mehr in selbstschädigendes Verhalten gehen muss. Aber ich weiß, dass man es lernen kann, und zwar indem man die Gefühle fühlt und dabei gehalten ist. In der Klinik ging das nicht in dem Maße, wie ich es aus den Sessions bei Jonny kannte. Das hatte Vor- und Nachteile. Der Vorteil war, dass ich andere Strategien entwickeln musste, wie ich damit umgehe, und dabei gelernt habe, dass ich mich nicht nur Jonny anvertrauen kann, sondern dass auch andere Menschen in der Lage sind, meine Intensität auszuhalten und mir weiter zu helfen. Und dass ich danach suchen und fragen kann. Der Nachteil war, dass ich mich immer wieder in den schlimmen Momenten allein gelassen gefühlt habe und mich darauf gefreut habe, zu Hause mit der Körperarbeit weiter machen zu können. Dadurch dass ich wusste, dass ich immer wieder zu Jonny und Angela zurück gehen konnte und mit den Einzelsessions und der Gruppe weitermachen konnte, egal, was passiert, konnte ich mich recht gut auf die Arbeit in der Klinik einlassen.
Und es geschah richtig viel. Eines Tages merkte ich, dass ich Heimweh hatte. Was! Ich und Heimweh? Ich, die ich immer gerne meine Koffer packe und es nicht erwarten kann, wegzufahren; ich, die ich Monate allein in China verbracht hatte, ich habe jetzt Heimweh? Und wie! Und obwohl es so sehr weh tat, freute ich mich. Es bedeutete, dass ich einen Ort habe, an dem ich mich zu Hause fühlte. Und ich merkte: Da will ich bleiben und wirklich Wurzeln schlagen. Ich will nicht weg. Ich will nicht in die USA. Und die Unikarriere... Da hatte es nie eine Alternative gegeben, ich habe darüber nie nachgedacht, es war immer klar gewesen, dass ich Professorin werde. Aber ich bemerkte: Ich will es gar nicht. Ich habe keine Ahnung, was ich will, aber an der Uni will ich nicht weiter arbeiten.
Mit meiner Art geriet ich in viele Konflikte mit den Mitpatienten. Genauso viel Angst, wie ich selber habe, habe ich erzeugt. Genauso viel Härte und Unbarmherzigkeit, wie ich mir selbst gegenüber an den Tag lege, brachte ich anderen entgegen. Die gleiche Erwartungshaltung, die ich an mich habe, hatte ich anderen gegenüber. Ich fand es sehr schwer und durchaus ernüchternd, das so klar gespiegelt und benannt zu bekommen. Und gleichzeitig: Wenn es mir gut ging, wenn ich stabil war und mit mir in Frieden war, dann konnte ich gut mit den anderen in Kontakt kommen. Aber den Kontakt hielt ich nicht allzu lange aus. Immer wieder musste ich allein sein und mich in mein Häuschen zurück ziehen.
Als ich entlassen wurde, war ich wohlgemut. Vor allem gefiel mir, dass ich schlimme Diagnosen bekommen hatte, so dass mein Wunsch, weiterhin krank geschrieben zu sein und Krankengeld zu beziehen ohne arbeiten zu müssen, in Erfüllung ging. Ich wollte erst einmal spüren, was ich denn will und wohin die Reise meines Lebens weiter gehen soll. Insbesondere, was ich arbeiten will. Also wollte ich eine berufliche Rehabilitation machen. Aber die stand mir nicht unmittelbar zu, weil ich noch nicht lange genug in die Rentenversicherung eingezahlt hatte. Ich musste zuerst eine medizinische Reha machen, also strebte ich die an. Es dauert Monate, bis die Anträge bearbeitet waren und ich ein zweites Mal in die Klinik gehen konnte.
In diesen Monaten war ich zu Hause. Und merkte, dass ich tatsächlich ein Zuhause habe, und wie schön das ist. In der Klinik hatte mir der Mix aus verschiedenen Methoden sehr gut getan, deswegen wollte ich das auch ambulant weiter machen und zusätzlich zur Körperarbeit eine gesprächsbasierte Therapie anfangen. Aber der erste Arzt, den ich aufsuchte, sagte, dass ich dann mit Skan aufhören müsse und dass das auch seine Kollegen so sehen würden. Das kam für mich nicht in Frage. Ich gebe nicht das auf, was mir Stabilität gibt und wo ich mich sicher fühle. Ich habe so viele Jahre gebraucht, um diese intensive Beziehung zu Jonny aufzubauen, das gebe ich doch nicht auf. Aber ich spürte, dass mir die eine Einzelsession bei Jonny nicht reichen würde. Es waren so viele Themen losgetreten; in mir war der Bär los. Immer wieder zitterte ich, immer wieder hatte ich Selbstverletzungsimpulse. Und inzwischen wollte ich dem etwas entgegen setzen. Ich fand es nicht mehr normal, nicht mehr akzeptabel. Ich wollte damit aufhören. Aber ich hatte nichts, das ich entgegen setzen konnte. Da sprach ich mit Jonny und Angela. Beide sagten: "Hier bist du willkommen." Ich bin willkommen. Sie nehmen mich an, so wie ich bin, ohne weitere Bedingungen. Und wenn die Therapeuten mich nicht nehmen wollen, dann zahle ich eben weiterhin selbst und mache das weiter, was mich schon so weit gebracht hat. Zusätzlich zu den Stunden bei Jonny und der gemischten Gruppe fing ich bei Angela in der Frauengruppe an.
Zwei- bis dreimal pro Woche Skan. Und ich hatte immer noch das Gefühl, dass es nicht reicht. Wenn die Schlageimpulse kamen, dann konnte ich mich manchmal nur irgendwie über die Tage retten und war vollständig damit beschäftigt, mich nicht zu schlagen und auf die nächste Skan-Session zu warten. In der ich dann toben und schreien konnte, in der ich gehalten war, in der ich verstanden war. In der ich sicher war und mich nicht von außen bedroht fühlte, so dass ich meinem inneren Gefühl von Bedrohtsein standhalten konnte. Ich verstand nicht, was mit mir geschah. In mir drin tat etwas ganz furchtbar weh, aber ich fand keine Tränen, die diesen Schmerz ausdrücken konnten. Ich fand nur den Drang, auf mich draufzuschlagen, um alles wegzuschlagen, was ich nicht aushalten kann. Und im Skan gab es dann doch immer einen Weg, so dass ich mich nicht schlagen musste. Aber zu mehr war ich nicht in der Lage. Es war nicht daran zu denken, wieder zu arbeiten. Ich konnte mich weiterhin nicht auf etwas von Außen Vorgegebenes konzentrieren. Ich konnte weiterhin nicht lesen. Dafür aber schreiben. Stundenlang füllte ich Seite um Seite in meinen Tagebüchern. Manchmal hatte ich in weniger als einem Monat eine ganze Kladde vollgeschrieben. Es half mir zu verarbeiten, was in den Sessions und in den Gruppen passierte.
Ich sehnte mich so sehr nach Nähe und Geborgenheit und Partnerschaft. Auch das ist mir erst in der Klinik richtig bewusst geworden. Und da ist mir auch bewusst geworden, dass das nicht von allein passiert. Als Kind war ich davon überzeugt gewesen, dass das Zusammensein von einer Frau und einem Mann ein biologisches Programm ist, das sich automatisch in uns Menschen abspielt. Und wenn zwei zusammen eine Nacht in einem Zimmer verbringen, dann entsteht ein Kind, weil sich beide gar nicht gegen ihre Instinkte wehren können. Aber in mir war das pure Gegenteil. Ich hielt die Nähe schier nicht aus und sehnte mich doch so sehr danach. Ich wünschte mir, dass meine Partnerschaft enger werden würde. Dass wir auf jeden Fall die Wochenenden miteinander verbringen und er auch bei mir übernachtet. Er war einverstanden. und kam jedes Wochenende zu mir. Aber ich fand keine Ruhe, wenn er im gleichen Zimmer war wie ich. Immer wenn ich einschlafen wollte, schreckte ich in Panik wieder hoch und fand keinen Schlaf. Er musste im Nachbarraum schlafen. Es war schlimm. Und doch: Ich bin nicht mehr nur in Konflikten, die sich ausschließlich in mir selbst abspielen, sondern ich bin in Konflikt mit einem anderen Menschen. Das ist eine Weiterentwicklung. Und in den Sessions hatte ich die Möglichkeit, das Geschehen zwischen uns zu reflektieren.
Durch das Auf-Mich-Geworfensein lernte ich meinen Körper neu kennen. Ich erkannte, dass ich immer grob zu mir gewesen war und mir gar nicht vorstellen konnte, dass es auch anders geht. Aber in den Sessions, wenn Jonny mich hielt, dann war das immer in einer warmen und kraftvollen Zartheit, in der ich mich voll und ganz aufgehoben fühlte und die ich langsam aber sicher erkannte als etwas Menschliches, nicht etwas Magisches, das für alle Zeit außerhalb meiner Reichweite läge. Ich wünschte mir, dass ich auch selbst zu mir so zart sein könnte. Aber in mir war noch Grobheit. Und wenn ich mich zwang, zart zu mir zu sein, dann bekam ich Angst und zitterte. Aber das war mir egal. Ich übte es. Und wenn die Gewaltimpulse gegen mich zu groß wurden, zwang ich mich aufzuhören. Immer wieder war es eine brutale Qual, die mein ganzes Wollen erforderte. Doch wenn es mir gelang, gut zu mir zu sein, dann lief eine so unglaubliche Zufriedenheit durch mich. In der Klinik hatte ich Leute getroffen, die zum Teil seit 20 Jahren darum kämpften, selbstfürsorglich zu sich zu sein. Und die doch immer wieder in ihre alten Verhaltensweisen kippten. Aber sie hatten nicht aufgegeben. Und ich gebe auch nicht auf. Und ich spürte, wie ich langsam immer mehr zu mir fand. Wie viele Jahre mache ich das schon? Wie viele Jahre werde ich noch brauchen? Egal. Es war mir egal. Ich freute mich, dass ich im Sozialstaat lebe, in dem es möglich ist, über viele Monate versorgt zu sein und einen intensiven inneren Prozess zu durchlaufen.
Nach einigen Monaten ging es mir wieder so gut, dass ich wieder Lust bekam zu arbeiten. Ich konnte wieder ohne Kopfweh über den Campus gehen, ich konnte wieder am Computer arbeiten. Ich nahm den Kontakt zur Uni wieder auf. Zwar wollte ich nicht dauerhaft dort arbeiten, aber ich wusste, dass ich als Wissenschaftlerin arbeiten kann, das hatte ich ja schließlich lange genug gemacht. Und ich dachte mir, dass ich ja erst einmal den Faden da aufnehmen könne, wo er gerissen war. Tatsächlich bekam ich eine Stelle angeboten. Über eine Unterstützung im Rahmen einer beruflichen Reha wollte ich nach der medizinischen Reha gleitend einsteigen. Schließlich wurde mein zweiter Klinikaufenthalt bewilligt. Diesmal war ich sechs Wochen lang dort. Und wieder geschah richtig viel. Ich wollte mit meinem Vater in Kontakt treten. Aber er ließ mich hängen. Daran merkte ich, dass er das immer getan hatte, dass er nie ein Vater für mich gewesen war. Das haute mich um. Und ich merkte, dass mein Zwang zur Exzellenz und zur akademischen Karriere irgendwie mit meinem Vater zusammen hing. Will ich wirklich wieder an die Uni, wenn auch nur vorübergehend? Oder ist es an der Zeit, einen echten Schnitt zu machen? Ich wurde mit der Empfehlung auf eine berufliche Reha entlassen. Und mein Therapeut in der Klinik hatte gesagt, dass er mit mir eine gesprächsorientierte Arbeit machen würde, auch wenn ich die Körperarbeit weiter machen wollte. Ich solle doch noch mal suchen gehen. Die Zeit in der Klinik war zu kurz gewesen. Der dicke Brocken mit meinem Vater war zwar losgetreten, aber nicht bewältigt, als ich wieder nach Hause kam. Und da konnte ich mich zunächst nicht spüren. Ich hatte den Kontakt zu meinen Gefühlen verloren. Fuhr mit dem Rad am Neckar entlang, sah das Glitzern der Sonne in den Wellen, die blühenden Bäume, den Frühling. Und kombinierte messerscharf, dass es schön sein muss. Aber ich spürte nicht, dass es schön war. Und irgendwie kam ich auch nicht in Kontakt mit Jonny. Er sagte: "Ich kann dich nicht fühlen." "Ja", dachte ich, "ist ja klar. Ich kann mich auch nicht fühlen. Das ist es ja, was so schlimm und unerträglich ist." Und dann brach zu Hause die Gewalt wieder durch und ich schlug brutal auf mich ein. Danach konnte ich mich wieder fühlen. Und war gleichzeitig extrem frustriert: Waren die letzten Monate umsonst gewesen? All mein Ringen darum, mich nicht zu verletzen, vergebens? Gleichzeitig spürte ich: Wenn ich wieder arbeiten würde, hätte ich nicht die Kraft, der Gewalt gegen mich etwas entgegenzusetzen. Und inzwischen war es für mich schlimm geworden, immer nur zu Hause zu sein. Ich hatte wieder Kraft und den Willen, mein Leben selbst zu gestalten und zu finanzieren. Ich wollte nicht mehr von sozialstaatlicher Hilfe leben. Ich wollte wieder dazu gehören zur Gesellschaft und mich nicht als außerhalb der Gesellschaft stehend wahrnehmen. Ich wollte wieder auf der gebenden und nicht länger auf der nehmenden Seite stehen. Lieber wollte ich mich wieder schlagen, wenn es anders nicht ging.
Die Rentenversicherung wollte meinen Antrag auf berufliche Reha nicht gleich bewilligen, "in Anbetracht der Schwere der Störungen" seien zusätzliche Gutachten nötig. Was für Affen sind denn das? Wie, bitte schön, habe ich es denn vorher hingekriegt? Und jetzt soll es nicht mehr gehen? Ich wollte wieder arbeiten. Und ich wollte zusätzlich zur Körperarbeit gesprächsbasiert arbeiten. Als erstes ging ich schon mal illegal jeden Tag drei Stunden lang an die Uni und fing in dem neuen Job an. Es war schlimm. Jeden Tag, wenn ich zurück kam, hatte ich Schlageimpulse, häufig konnte ich sie nicht abwenden. An das Zittern hatte ich mich inzwischen gewöhnt. Drei Monate lang machte ich weiter. Aber meine Verzweiflung wuchs: Es änderte sich nicht. Es blieb so schlimm wie am ersten Tag. Schließlich musste ich erkennen: Es geht nicht. Der Weg zurück an die Uni ist mir versperrt. Für jetzt auf jeden Fall und vielleicht für immer. Ich bekam Angst, echte Angst, dass ich mich nicht aus eigener Kraft erhalten können würde. Wenn ich mich an der Uni nicht konzentrieren konnte, würde ich mich dann woanders konzentrieren können? Und wo sollte das sein? Was für Möglichkeiten habe ich denn, eine Arbeit aufzunehmen? Und wer nimmt mich denn, wenn ich sage, dass ich schon ein Jahr lang arbeitsunfähig bin und nicht weiß, inwieweit ich wieder belastbar bin?
Dazu die Warterei auf die Rentenversicherung. Das Wissen, wie lange die Abläufe dort dauern, das Wissen, dass das Krankengeld irgendwann ausläuft. Die Angst, dass ich meine Miete nicht mehr zahlen kann und von dem Ort weg muss, an dem ich mich zu Hause fühle. Das Gefühl, mit all diesen Dingen so furchtbar allein zu sein. Auch Jonny konnte mir da nicht weiterhelfen. Er unterstützte mich emotional und ermunterte mich immer wieder, den nächsten Schritt zu machen. Was auch immer dieser nächste Schritt war. Aber wie ich mit all den anstehenden Formalitäten umgehen könnte, da konnte er mir keine Unterstützung geben, das ist nicht sein Metier. Immer häufiger fühlte ich mich von ihm allein gelassen und wurde wütend und aggressiv gegen ihn. Jedenfalls wusste ich, dass es wirklich an der Zeit war, eine gesprächsbasierte und kassenfinanzierte Therapie zu suchen. Jonny war davon nicht sehr begeistert und fragte mich, was ich mir davon erhoffe. Es waren so viele Themen offen, die ich nicht über Körperempfinden und körperlichen oder emotionalen Ausdruck bewältigen konnte, sondern wo ich mehr intellektuelles Verständnis brauchte, als ich von Jonny bekam. "Mit dir kann ich nicht reden", warf ich ihm vor, "du verstehst mich nicht!" Manchmal hatte ich den Eindruck, dass es ihm egal war, wie es mir zwischen den Sessions zu Hause ging. Immer wenn ich über etwas anfing, das vorgestern passiert war, holte er mich ins Hier und Jetzt und fragte: "Was ist jetzt da? Wie fühlt es sich jetzt an?" Und auch darauf entwickelte sich vieles weiter, so wie schon all die Jahre. Aber mit dem, was vorgestern passiert war, ging ich genauso hilflos und unverstanden nach Hause wie ich in die Stunde gekommen war.
Meine Suche nach einer gesprächsbasierten Therapie verlief schleppend. Ich machte so viele Termine bei unterschiedlichen Therapeuten und Ärzten aus, wie ich konnte. Aber jedes Mal wieder meine Geschichte zu erzählen, war extrem anstrengend. Ein Stück weit hatte ich zusätzlich das Gefühl, Jonny zu verraten und war gleichzeitig verdammt wütend auf ihn, weil er nicht merkte, wie wichtig das für mich war und weil er mich an dieser Stelle nicht voll unterstützte. Meinen Ärger konnte ich ihm aber nicht offen zeigen, sondern ging stattdessen in eine Art Boykott. Und brauchte ihn gleichzeitig so sehr. Die Ärzte sagten mir alle etwas anderes. Manche gingen so weit mir zu empfehlen, mich berenten zu lassen. Und ich dachte: "Wie bitte? 2006 Promotion summa cum laude, 2007 Berentung? Das kann ja wohl nicht wahr sein!" Eine sagte zu mir: "Sie sind schwer traumatisiert. Sie können nicht arbeiten, Sie müssen erst mal zwei, drei Jahre lang Traumatherapie machen." Oder: "Das dauert Jahre. Krisenhafter Verlauf ist vorauszusehen, da müssten wir vorsorgen, vielleicht mit der Klinik hier vor Ort, wenn Sie wieder suizidal werden." Als ob es unausweichlich wäre, dass ich dem Tod wieder so nahe kommen würde. Und das in einer ersten Begegnung, Scheißkerl. Ich war so froh, wenn ich wieder zu Jonny und Angela gehen konnte. Die glaubten an mich. Die glaubten mir, wenn ich sagte, dass ich wieder Kraft habe und arbeiten will. Sie wussten, dass ich zum Leben gefunden hatte und leben wollte. Und sie gaben mir die Zuversicht, dass es weiter gehen wird, auch wenn mir in diesen Monaten alle Felle wegschwammen. Es dauerte Monate, bis ich ein Analytikerin fand, die keine Horror-Visionen entwarf, sondern nüchtern blieb und sowohl erkannte, von welcher hartnäckigen Tiefe meine Schwierigkeiten sind als auch, welche Ressourcen ich zur Verfügung habe. "Natürlich können Sie arbeiten!" sagte sie. Und sie war die einzige, die mich ein zweites Mal sehen wollte. Bei allen anderen musste ich mich darum bemühen, einen zweiten Termin zu bekommen, wenn ich überhaupt einen wollte. Ich fühlte mich aufgehoben bei Frau Klar (Name geändert). Und war gleichzeitig extrem misstrauisch und skeptisch.
Dann stand das Gutachten der Rentenversicherung an. Der amtlich bestellte Psychiater hörte mich gar nicht richtig an. Als ich von der Körperarbeit sprach, sagte er: "Hören Sie damit auf, wenn Ihnen Ihr Leben etwas wert ist", und erzählte von Berlin in den 70er Jahren, als nach unverantwortlichen reichianischen Sessions die Notaufnahme in den Psychiatrien voll war. Dass Jonny und Angela sehr verantwortlich agieren und genau wissen, was sie tun, war ihm egal. Genauso, wie er es ignorierte, dass ich auf meiner Suche nach einem Therpieplatz schon ca. zehn Erstgespräche mit niedergelassenen Therapeuten geführt hatte. Er knüpfte seine Empfehlung, die berufliche Reha zu bewilligen, an die Auflage, dass ich mich in eine anerkannte psychotherapeutische sowie psychiatrische Behandlung zu begeben hatte. Damit konnte ich leben, das wollte ich ja selbst.
Ich beschloss, den Schritt zu wagen und mich endgültig von der Uni zu verabschieden. Es tat weh, aber es ging nicht anders. Und dann dachte ich: "Na gut, wenn ich jetzt wirklich nicht weiß, was ich machen kann, dann bin ich jetzt ein eindeutiger Fall für berufliche Beratung, dafür gibt es ja schließlich die berufliche Reha und die ist ja jetzt bewilligt." Also klapperte ich alle Beratungsstellen in der Region ab. Um immer wieder festzustellen: Die können mir nichts raten. Ich bin Akademikerin und als solche in dieser Szene ein Problemfall. Für solche wie mich gibt es keine Angebote. Sie können mir keine Weiterqualifizierung anbieten, weil ich schon höher qualifiziert bin als alles, das sie im Programm haben. Und dazu meine Symptome, die spielten ja bei der Bewilligung einer Maßnahme eine Rolle. Ich muss ja belastbar genug sein. Eine Beraterin fragte: "Schlagen Sie sich noch?" Ich antwortete ehrlich mit Ja. Das war ein Fehler. Daraufhin sagte sie, dass ich dann erst mal stabil werden müsse, sonst könne man gar nichts machen. Ich war gefangen im Sozialstaat. Aber nach der Erfahrung der letzten Monate an der Uni traute ich mir auch nicht zu, wieder regulär zu arbeiten. Schließlich kam ich zu dem Entschluss, dass ich ein Praktikum machen wollte, und dadurch ausprobieren wollte, inwieweit ich wieder belastbar und arbeitsfähig war. In einer Firma hier in der Gegend und mit einer Aufgabenstellung, die meiner Qualifikation angemessen ist. Und nachdem die Einrichtungen mir in diese Richtung keine Kontakte vermitteln konnten, wollte ich es mir selbst suchen. Das durfte ich aber nicht, da ich im Krankenstand nicht arbeiten durfte und auch kein Praktikum machen durfte. Wenn ich es trotzdem getan hätte, hätte ich den Anspruch auf Krankengeld verloren und die Bewilligung der beruflichen Reha wäre zurückgezogen worden. Dann hätte ich wieder von vorn anfangen müssen. Oh no.
Das einzig Stabile und Verlässliche waren die Sessions bei Jonny und Angela. Das Zittern wurde ganz langsam weniger. Es verlagerte sich mehr in meinen Leib hinein, wurde manchmal zu einem nicht mehr sichtbaren aber umso fühlbareren Vibrieren. Die Gruppen taten mir gut. Auch zu Hause konnte ich zunehmend besser und mehr in Kontakt zu anderen Menschen gehen und mich mit meinen Freunden treffen. Die Zeit, in der ich es nicht aushielt durch die Straßen zu gehen und mich in ein Cafe zu setzen, weil ich die Präsenz anderer Menschen bedrohlich fand, war eindeutig vorbei. Langsam konnte ich auch wieder lesen. Noch nicht so lange, wie ich gerne wollte, aber es war wieder möglich, eine Stunde lang in einem Roman zu lesen und ohne Kopfweh vor einem Computer zu sitzen.
Im Herbst 2007 fing ich bei Frau Klar mit meiner Analyse an. Puh, das erhöhte meine Therapiefrequenz auf vier bis fünf Termine pro Woche. Fast so intensiv wie in der Klinik. Endlich so, wie ich es die ganze Zeit haben wollte. Und es tat mir richtig gut. Endlich hatte ich den für mich passenden Methodenmix. Endlich konnte ich mich in der Körperarbeit wieder auf die körperlich-emotionale Ebene des Beziehungsgeschehens fokussieren, weil für alle Themen von Berufsfindung und Identität und den damit verbundenen emotionalen Prozessen in der Analyse Platz war. Anfangs mochte ich mich Frau Klar gegenüber nicht so recht öffnen und hielt mich emotional bedeckt. Ich wusste nicht, ob ich bei ihr sicher genug wäre. Aber von Anfang an fühlte ich mich von ihr verstanden, genau an den Stellen, an denen es bei Jonny aufhörte. Und ich konnte über die Themen von vorgestern sprechen und alle meine Fragen noch einmal von einem anderen Blickwinkel aus betrachten. Aber wenn ich an einen Punkt kam, an dem ich nicht mehr weiter sprechen konnte, dann wurde es schwierig. Dann wollte ich nur noch gehalten werden, aber das tat Frau Klar nicht. Sie sagte: "Ich bin nicht Jonny." Und wenn ich bei Jonny war und davon sprach, dass ich mit Frau Klar besser reden könne als mit ihm, sagte Jonny: "Ich bin nicht Frau Klar." Oh Mensch. Warum geht nicht beides zusammen und gleichzeitig? Und doch war ich froh, dass ich beides hatte, Körperarbeit in Einzel und Gruppe und dazu die Analyse. Das ist eine ideale Kombination.
Schließlich empfahl mir die Beraterin der Rentenversicherung eine Reintegrationsmaßnahme, in deren Rahmen ich selbst ein Praktikum suchen sollte, um auf diese Weise im Arbeitsleben wieder Fuß zu fassen. Der Träger der Maßnahme sah sich meinen Lebenslauf an und war einverstanden, dass ich mein Ding mache und mir im Rahmen der Maßnahme ein längeres mehrmonatiges Praktikum suche. Das hat geklappt, ich bekam eine Stelle in der Industrie als unbezahlte promovierte Teilzeit-Sonderpraktikantin mit zuerst 25 Stunden wöchentlich und dann formal 30 Stunden, wobei ich etwas mehr arbeitete. Es funktionierte. Und ich konnte es mit meiner Mammut-Therapie verknüpfen, ich hatte genug Kraft. Daran merkte ich, dass ich wieder belastbar war. Im April 2008 schrieb ich ganz regulär Bewerbungen auf ausgeschriebene Stellen in Bereichen, die ich mir als Job vorstellen konnte. Drei Monate später unterschrieb ich meinen Arbeitsvertrag zu einer unbefristeten Vollzeitstelle.
Die Kombination aus Körperarbeit und Analyse führe ich weiter und war ein drittes Mal in der Klinik. Ich beginne, den Schmerz zu fühlen, und manchmal kann ich weinen. Das fühlt sich dann an, als wolle die Welt untergehen, und doch steckt noch so viel mehr Schmerz in mir. Wenn etwas gelingt, dass noch zwei Monate zuvor undenkbar war, dann spüre ich: Es lohnt sich. Dann bin ich motiviert, weiter zu machen. Wenn ich neue Gefühle spüre, die ich mir zuvor in keinster Weise vorstellen konnte, dass es sie geben könnte oder dass ich sie in mir entdecken könnte, dass es eine Welt gibt, die mir zugänglich ist, dann bin ich beglückt. Auch wenn es oft schwierige Gefühle sind, die ich am liebsten loshaben würde, wenn ich sie habe. Die Art wie ich in Beziehung zu anderen Menschen treten kann, hat sich grundlegend gewandelt. Ich bin viel entspannter und sicherer geworden. Ich spüre meine Gefühle, ich kann mich in andere einfühlen, ich merke, was ich brauche und kann es mir meistens holen. Seit fünf Monaten bin ich rückfallfrei und habe mich nicht mehr geschlagen, auch wenn ich immer noch emotional tiefe Einbrüche erlebe, die mich an den Rand des Ertragbaren bringen und mich überfordern. Gefrustet bin ich, wenn ich nicht so viel Zeit und Kraft habe wie ich mir wünsche und wie es gut für mich wäre, um meine Beziehungen zu Freunden oder vielleicht irgendwann zu einem Partner zu pflegen und neue Beziehungen aufzubauen, weil oft neben der Arbeit und der Therapie nicht genug Freiraum da ist. Ich brauche viel Zeit für mich allein, und oft wird mir das Alleinsein schließlich zur Einsamkeit. Dann sehne ich mich nach anderen Menschen, aber wenn sie da sind, bekomme ich häufig Angst. Da liegt noch ein Weg vor mir.
(Naturwissenschaftlerin, 34 Jahre)