Panzerung
Im Verständnis des Arztes, Psychotherapeuten und Naturforschers Wilhelm Reich (1897-1957) sind unsere Lebenserfahrungen nicht nur unserem Gedächtnis, sondern auch unserem Körper eingeschrieben. Wir verkörpern unsere Erfahrungen und begegnen so unserer Umwelt.
„Der Begriff „Panzerung“ in der Körperarbeit hat nicht zufällig auch diese militärische Konnotation (Konnotation - die Grundbedeutung eines Wortes begleitende zusätzliche (emotionale, expressive, stilistische) Vorstellung: Wilhelm Reich hat dieses Wort sehr bewusst gewählt. Er hätte auch „Verfestigung“ sagen können, „chronische Muskelspannung“ oder was immer. Er hat sich für „Panzerung“ entschieden, weil ihm klar war wie sonst keinem, dass Panzerung Krieg im Körper bedeutet, mit allen verheerenden, verwüstenden Konsequenzen. …
… Panzerung kann viele Formen annehmen. Wir denken natürlich zunächst an das System der chronischen Muskelkontraktionen, der Verdickungen des Bindegewebes und last not least an den sogenannten Charakterpanzer, die rigide psychische Struktur. Bekanntlich hat der Panzer ja eine doppelte Schutzfunktion, gegen außen und innen. Es soll nichts unkontrolliert rein und nichts unkontrolliert raus. Diesen Zweck erfüllen natürlich auch abgeleitete Formen von Panzerung: Sonnenbrillen, Kleidung, Barte, akademische oder Verwaltungstitel machen sich gut im Dienst der Panzerung: Prof. Dr. Dr., Leitender Ministerialdirigent, Diplom-Psychologe... Autos, Zigaretten, Alkohol, Weltanschauungen, letztlich kann alles zur Panzerung benutzt werden. …
… Unter Panzerung verstehe ich also alles chronisch Starre, Rigide, Fixierte, das den Fluss und den Ausdruck des Lebendigen in uns verhindert. Vor allem wird verhindert, dass eine tiefe, lebendige, kontaktvolle Begegnung vom Kern her stattfinden kann. Eine solche Begegnung, energetisch gesprochen: Überlagerung, Durchdringung, ist aus sich selbst heraus befriedigend, …
… Statt dessen begünstigt die Panzerung alle Arten von Ersatz- oder Scheinkontakten, mit immer glitzernderer Verpackung, immer faderem Nachgeschmack... Nichts bleibt „real“ daran.
Das ist es, wonach sich alle am meisten sehnen: wirkliche, nährende, kontaktvolle Beziehungen mit anderen Menschen, Begegnungen, wo nichts dazwischen ist, bei denen man sich und den anderen fühlen kann, sich mit dem anderen eins fühlen kann. Es geht um die Herstellung dieser kontaktvollen Verbindung, die die Grenzen der eigenen einsamen Existenz für Augenblicke oder länger transzendiert. Andersrum ist es genau dies, was die meisten fürchten: diese Qualität der Begegnung, wenn die Knie weich werden, das Herz höher schlägt, alles zu vibrieren, pulsieren, strömen beginnt, das Verschmelzen einsetzt.“ (Loil Neidhöfer - Intuitive Körperarbeit 1990 - 2002, S.36 ff.)