Einblicke in fünf Jahre Körperarbeit
„Ich kann mir nichts Schlimmeres vorstellen, als bei lebendiger, schmerzerfüllter Seele der Fähigkeit beraubt zu sein, ihr Ausdruck zu verleihen.“
Diesen Satz von Hermann Hesse fand ich in einem meiner alten Tagebücher. In der Körperarbeit habe ich diese Fähigkeit, mein Innerstes zu spüren und ihm Ausdruck zu verleihen, entwickelt. Ich möchte sie nicht mehr missen.
Tränen. Als zu Beginn der Körperarbeit mein Kopf noch voller Skepsis und Misstrauen gegenüber dieser Art zu arbeiten war, kamen schon nach den ersten tiefen Atemzügen beharrlich und unaufhaltsam die Tränen. Als hätten sie nur auf diese Chance gewartet - auf Abruf bereit gestanden, um den Strom in Bewegung zu bringen. Ich habe sicher ein Jahr lang geweint, jede Woche in diesem kleinen Zimmer, immer wieder das Gleiche: zugeschnürte Kehle, enge Brust, Tränen, Schmerz und Traurigkeit- eine Stunde lang. Laut und leise, unerschöpflich, sehr verlässlich. Ich selbst hatte am wenigsten mit dieser Tränenflut gerechnet. Es irritierte mich, wie viel Schmerz und Trauer ich zu bieten hatte. Irgendwann habe ich aufgehört zu fragen, woher die Tränen kamen, warum gerade heute, wie lange noch und ob all das angemessen sei ... irgendwann haderte ich seltener damit, kämpfte weniger dagegen an, sondern ließ die Traurigkeit einfach kommen. Sie war sowieso da. Ich glaube mein Körper freute sich dann oft insgeheim schon vorher auf diese Situation: Luft holen, Kopf ausschalten, Loslassen und einfach Weinen, so laut und so viel ich konnte. Und danach – ein Gefühl von Leichtigkeit, Befreiung, guter Laune, Hochstimmung. Als wäre viel mehr Platz in meinem Körper, als könne der Wind hindurchfegen.
Und plötzlich hörten die Tränen auf. Ich lag da und es kamen keine mehr. Ich war skeptisch, konnte es kaum glauben, atmete tiefer, aber nein. Die überfluteten Kellerräume waren leer gepumpt. Platz für Neues und eine bessere Sicht auf das, was sich dort noch alles verbarg.
Die Tränen sind mir trotzdem geblieben. Sie tauchen als alte Bekannte immer mal wieder auf. Ich habe mich mit ihnen versöhnt. Sie sind ein Stück von mir - sehr vertraut und deshalb auch tröstlich. Sie kommen und gehen und alle dürfen sie sehen.
Angst. Eines Morgens wachte ich auf und hatte keine Angst mehr, verlassen zu werden. Ich merkte dies sofort, da diese Angst zwar stets ein recht zurückhaltender Begleiter war, mir jedoch in ihrer Beharrlichkeit wie ein Schatten folgte, an dessen Anwesenheit ich mich schon wie an das Vorhandensein eines Naturgesetzes gewöhnt hatte. Misstrauisch begegnete ich diesem seltsam leichten, befreienden Gefühl und wartete jeden Tag auf die alte und vertraute Schwere. Fürchtete ich doch immer um die Beständigkeit wichtiger Freundschaften. Traute niemandem. Hatte ich doch schon immer bei jedem mit meinem Freund gemeinsam erstellten Fotoalbum selbstverständlich parallel überlegt, wie diese Dinge im Falle einer Trennung aufzuteilen wären. Die Angst, die Eifersucht, das Misstrauen begleiteten alltägliche Situationen so selbstverständlich, dass ich sie oft gar nicht mehr bemerkte oder gar in Frage stellte. Es war für mich klar, dass Beziehungen immer damit enden, dass der andere irgendwann geht. Ein subtiles Bedrückt-Sein, das mich klein machte, mein Handeln einengte und dazu antrieb, mich dahinter zu verstecken.
Nun war dieses Gefühl plötzlich weg. Unbegreiflich! Wie leicht sich alles anfühlte! Welche Möglichkeiten! Ich traute mich mehr von mir zu zeigen, auch meine Ecken und Kanten. Ich traute mich von anderen etwas einzufordern, Initiative zu ergreifen statt nur angstbestimmt zu reagieren. Trennungen können vorkommen, dachte ich, aber ich werde sie schon verkraften. Andere können gehen, aber ich kann auch gehen. Gedanken, die noch nie durch Kopf gewandert waren. Diese Angst kam seitdem nur noch selten in der alten Schwere zurück.
Ich hätte nie geglaubt, dass sie eines Tages tatsächlich bereit wäre zu gehen.
Zittern. Ich freue mich sehr, wenn das Zittern kommt. Meist nachdem sich etwas gelöst hat. Wut, Trauer, Verzweiflung oder Freude. Dann beginne ich zu zittern. Sachte. In Wellen. Manchmal nur der Bauch, manchmal auch Kiefer und Beine, manchmal der ganze Körper. Als würde er aufwachen. Es hat etwas Beruhigendes und Aufregendes zugleich. Es fühlt sich an wie Loslassen, Lockerlassen und von der Lebendigkeit meines Körpers durchgeschüttelt werden. Manchmal taucht das Zittern auch im Alltag auf. Nachdem ich zum Beispiel eine Grenze überschritten habe, offener war als üblich, mehr von mir gezeigt habe, in einer Begegnung ehrlich und direkt sein konnte. Dann fange ich leise an zu zittern, für keinen sichtbar - nur für mich - wie ein Adrenalinschub Leben.
Hunger. Ich liebe diese Zeit. Weil der Hunger so aus dem Nichts kam, so ergreifend und existenziell war, so real und unmittelbar, so überdeutlich und intensiv. Noch nie habe ich solchen Hunger gelitten wie auf der Skan-Matte. Jede Faser meines Körpers hat rebelliert. Er kam meist zu Beginn der Stunde, nachdem ich einige tiefe Atemzüge genommen hatte. War er die ersten Wochen nach seinem Auftauchen noch erträglich, so wurde er immer mächtiger und unkontrollierbarer. Es half nichts, mir vorher den Bauch voll zu schlagen. Sobald ich auf der Matte lag, kostete es mich meine ganze Willenskraft nicht mitten in der Stunde aufzustehen, um beim nächsten Bäcker an der Ecke den Laden leer zu kaufen. Die Alternative war deutlich unbequemer. Liegen bleiben und einer enormen Verzweiflung und Panik gegenüber treten. Darüber, dass es unerträglich war. Darüber, dem Hungergefühl hilflos ausgeliefert zu sein. Allmählich wurde klar, dass keine Schokotorte half - ich war schlicht lebenshungrig. Suchte Lebendigkeit. Aber die konnte ich nicht eben schnell mal beim nächsten Bäcker organisieren. Und so blieb mir zunächst nur die Wut und der Zorn über diese scheinbar ausweglose Situation - mit allem was dazu gehört. Weinen, schreien, hassen, treten. Laut statt leise sein. Um mich schlagen statt still halten. Am Ende war mein Körper immer völlig erschöpft.
Nach und nach verwandelte sich der Hunger in etwas anderes. Lange Zeit war dieses Gefühl für mich sehr diffus - irgendwann hatte ich ein Wort dafür: Sehnsucht.
Sehnsucht. Sie kam leise und in den schillerndsten Farben. Ich hatte das Gefühl, dass mir nichts reicht, dass mir alles zu wenig sei, zu oberflächlich, zu gewöhnlich, zu grau. Hatte Sehnsucht nach Nähe, nach Echtheit, nach Intensität, nach Tiefe und Lebendigkeit. Der Hunger hatte ihr die Tür geöffnet und als sie eintrat, brachte sie eine Verzweiflung mit, die wie ein Sog Besitz von mir ergriff und sich mitten in mein Herz und meine Seele bohrte. Es fühlte sich an, als wären Scherben in meiner Kehle und Dornen in meiner Brust. Sie verschlang in Gedanken Momente des Glücks, ihre Gier schien unersättlich – mehr, mehr, mehr! Die alltäglich blasse Gleichförmigkeit konnte doch unmöglich alles sein? Unmöglich! Die Luft reichte kaum aus, bedrückende Enge, mühsames Schlucken, Husten, Würgen, Atemnot. Die Scherben zerkratzten mir den Hals. Ich hustete, spuckte und brüllte die Sehnsucht immer wieder aus mir heraus und sie wirbelte oft wie wild durch den Raum, den Boden und die Wände entlang - überall und nirgends - hilflos, süchtig, suchend. Irgendwann war sie erschöpft, fand etwas Ruhe und verwurzelte sich im Moment. Dann leuchtete sie oft in mir und gab mir Mut, all das Ersehnte zu suchen und mich ins Leben zu stürzen. Mit unerwarteter Kraft.
Lebenslust. Auf der Matte war dieses Gefühl manchmal sehr intensiv. Es begann mit einem Tumult in der Bauchgegend. Als würde sich dort ein Wirbelsturm zusammenziehen, langsam im Kreis drehen und Energie sammeln. Dann breitete er sich aus und strömte in jede Faser meines Körpers. Es fühlte sich an wie ein Überfließen, ein Auflösen, ein inneres Strahlen. In solchen Momenten war ich in die ganze Welt verliebt und hätte das Leben umarmen können. Licht drang in alle dunklen Ecken und leuchtete vorsichtig die Räume aus. Schönheit hielt würdevollen Einzug. Mut, Neugier, Wachheit. Unendliche Leichtigkeit. Als wäre alles, aber auch wirklich alles möglich. Inzwischen traut sich die Lebenslust auch nach und nach in meinen Alltag und steht in regelmäßigen, fast verlässlichen Abständen morgens an meiner Bettkante. Tiefliegende Freude breitet sich aus. Ich fühle mehr und mehr wie glücklich ich bin. Bin weniger hart zu mir, ergreife Initiative, schätze meine eigene Arbeit, traue mir öfter über den Weg, bin großzügiger zu mir und zu anderen, spreche Menschen an, habe Lust meinen Geburtstag zu feiern, mache Komplimente, kann welche hören, bin direkter, weiß was mir wichtig ist und setze mich dafür ein, schaue anderen in die Augen, fühle mich wohl bei mir, kann alleine sein, genieße mein Leben, bin in Aufbruchstimmung ... So kenne ich mich kaum. All diesen Gefühlen begegne ich oft noch mit großer Skepsis und Verwunderung. Mit Misstrauen. Angst, Enge und Rückzug sind mir vertauter und kommen meist schneller wieder durch die Hintertür, als ich es erwarte. Aber in einem beständigen und turbulenten Auf und Ab teilen sie sich den Raum mit vielen neuen Gefühlen. Im Innersten meiner Seele ist etwas heil geworden. Das wird sich seinen Weg bahnen. Dessen bin ich mir sicher.
(Sonderschullehrerin, 33)